De nouveau bâtiment – pièce K

pièce K
Das Kaugummi als wandelbare Kleinskulptur ist Quell steter Freude. Vortwährende Transformationsprozesse machen den Kauenden zum kunstschaffenden Dilettanten – zum Chewo- oder Gumograph. Ist das Wohlgeformte hinternfort vom Künstler befreit, finden nicht selten weitere und durchaus gewinnbringende Modifikationen statt. Schuhe und Reifen setzen sich wie von selbst ins Werk. Von den meisten Menschen unbemerkt, werden die Straßen unserer Städte so zu einer megalopolen Staffelei. In äußerst seltenen Fällen sind sich die Bewohner eines Ortes dieses wundersamen Prozesses bewusst. Ist es nicht also an der Zeit, diese kulturelle Leistung in all ihren Facetten entsprechenden zu würdigen?
pièce Kb

Strandgut

Eines dunstgeschwängerten Morgens verlässt ein außerordentlich kleiner Mann sein Anwesen. Er besteigt einen Ferrari 308 GTS.* Er startet den Motor und wird augenblicklich umhüllt vom satten Klang des 8-Zylinders. Die serpentinenreiche Küstenstraße tut ihr Übriges. Er kommt nicht weit, segelt ein kurzes Stück im Seewind dahin und verschwindet dann, samt Vehikel, in den zerwühlten Tiefen.

Es ist 1989. Ein ereignisreiches Jahr. Doch wir wollen uns nicht im historischen Kleinklein verheddern.
StrandferrariSand
Zweieinhalb Jahrzehnte später.

Ein wesentlich größerer Mann schlendert einen Strandabschnitt entlang. Seine Arme hinter dem Rücken verschränkt, seinen Blick suchend auf den Sandstrand gerichtet. Plötzlich verharrt er, scharrt mit der Fußspitze im salznassen Schüttgut und bückt sich. Seine Hände legen einen kleinen Gegenstand frei. Er erhebt sich, lächelt. Behutsam gibt er das Gefundene in ein grünes Eimerchen und wandert weiter.

Was es wohl ist? Was er da wohl dem Spiel der Gezeiten entrissen hat?

* Eigentlich hätte er lieber diesen wirklich einmaligen 512 S Modulo, aber woher nehmen, wenn nicht stehlen? Immerhin kommt sein 308 GTS in typischem Rosso Corsa daher.

Von alter Borke

Borkenhaushintern
Klein Borkelchen an einem sonnigen Maitag im Jahr 2015 unseres Herrn

Hannoversch Münden. Wir schlendern an einem schönen Tag auf dem Doktorwerder zwischen Werra und ihrem stummeligen Nebenarm eingepfercht dahin. Mit pfeifenden Lippen und summendem Herzen rückt ein ungewöhnliches Bauwerk in den Blick des wachen Wanderers. In hellem Grau räkelt es sich auf dem Gelände des Wasser- und Schifffahrtsamtes und gibt sein Geheimnis nur bei näherer Betrachtung preis. Es ist ein Borkenhäuschen, das sich da in all seiner eichgetäfelten Pracht lümmelt. Allerdings präsentiert es sich uns hinternfort, denn die Forderfront weist auf die Werra hinaus und das Betreten des Werkgeländes ist untersagt. So müssen wir uns also mit dem Hinterteil begnügen. Doch wir grämen uns nicht.
Ist es nicht gerade der lange Rücken dieses spitzbedachten Borkschlössleins, der uns in besinnungslose Verzückung tunkt? Er ist’s. Und so stehen wir eine Weile da und versenken uns in diesem erhebenden Augenblick.

Die Zeit läuft rückwärts und wir sehen das Jahr 1808.
Der Kaffeegroßhändler Friedrich-Karl Wilhelm Freytag erwirbt das Gelände des Doktorwerder und veranlasst den Bau des Borkenhäuschens. Seine Frau ist katholisch, doch die Reformation hat derartiges Brauchtum in Hannoversch Münden marginalisiert. Und darum erhält das geliebte Weib eine Privatkapelle, in der sie ihren religiösen Neigungen nach Gutdünken Ausdruck verleihen kann. Ein angereister Göttinger Pfaffe weiht den borkummantelten Andachtsraum.
Doch ach! Nur sechs Jahre währt das katholische Glück. Friedrich-Karl geht 1814 Konkurs und von nun an wechseln die Folgebesitzer stetig. Ihnen allen gemein ist die nur allzu verständliche Neigung das bauliche Kleinod mustergültig instand zu halten. Dies geschieht die kommenden zweihundert Jahre mit derartiger Hingabe, dass man dem Borkelchen noch heute sein stolzes Alter nicht ansieht. Auch betrauen die Borkelianer ihr Juwel mit allerlei Aufgaben und einmal macht es der schmerbauchige, aus Bremen stammende Hotelier Meyer sogar zum Mittelpunkt eines kleinen Cafés.

Borkenhausfront
Unser Borkelchen in Frontansicht. Der Fotograf hat sich kurzerhand auf’s Werksgelände verfügt und bittet diese Ordnungswidrigkeit zu entschuldigen. Es war ihm ein Bedürfnis.

Wir müssen blinzeln und stehen wieder im Jetzt.
Heutzutage ist das Borken-häuschen während der Sommermonate gelegentlich durch Mitarbeiter des Wasser- und Schifffahrtsamtes besetzt. Sie machen es sich darin bequem, um scherzend ihre Mittagspause zu verleben (wenn das Wetter mal nicht so will). Ein rustikaler Tisch und einige Stühle zeugen davon. Sonst gibt es nicht mehr viel zu tun, für unser kleines Borkelchen.
Wir wenden uns ab und schlendern summend weiter.